Dienstag, 27. Oktober 2009

Blinde Passagiere

A Playboy-Feature written by Jörg Heuer who travelled the US-freights.
It comes with flicks by Tina Hager.
If you can find it somewhere send us a scan.
Maybe it was published in the 7/96 Issue for Germany.
Sorry, we could only find a version in german language.

 













click here for the german text


Blinde Passagiere
Jörg Heuer

Der Rothaarige ist der erste Tramp, dem ich auf dem Güterbahnhof von Roseville, Kalifornien, begegne. Einen Steinwurf von mir entfernt zieht er das Butterflymesser aus dem Lederhalfter....
Während er es grinsend um das Gelenk rasseln läßt, wirft er das Kinn herausfordernd in die Höhe. Nach der Vorführung seiner Messerkünste beginnt er, sich mit der Klinge die Fingernägel zu säubern und die Hornhaut von seinen mächtigen Pranken abzuschälen. Während er also scheinbar mit seinen Händen beschäftigt ist, belauert er mich aus den Augenwinkeln. Der Typ gefällt mir nicht... So um Mitte Zwanzig muß er sein und ist wie ein Söldner gekleidet: schwarze Schnürstiefel, Tarnuniform, fingerlose Lederhandschuhe, Patronengurt, kurzgeschorenes Haar. In dem Gurt steckt auch ein Messer, dessen Klinge so lang wie ein Unterarm ist. Was der Tätowierte in seinem Sturmgepäck hat, will ich nicht wissen. Eigentlich will ich gar nichts von ihm wissen und denke, es wäre nicht schlecht, wenn er schnell auf einen Zug springt und abdampft.
Ich bin gerade mit dem Bus aus San Francisco angekommen. Will eine Geschichte über Hobos und train tramps machen, über Menschen, die mit Güterterzügen unterwegs sind. Und ich will selber mit Güterzügen durch ein paar Staaten fahren. Roseville liegt 110 Meilen nordöstlich von San Francisco und besitzt einen der größten Güterzug-Umschlagbahnhöfe Kaliforniens. Von hier aus gehen Züge in alle Himmelsrichtungen ab.
Ich wende mich von dem Rothaarigen ab, schlurfe an den Gleisen entlang. Ein paarmal linse ich über die Schulter zurück und bin erleichtert. Er folgt mir nicht. Die Sonne brennt heiß herunter. Jeder Schritt hinterläßt eine kleine Staubwolke. Ich trage schwer an meinem überquellenden Rucksack, der neben Schlafsack, Matte und Klamotten sechs Liter Wasser, Putenfleisch, Tortillas und Bohnen beherbergt — Proviant für drei Tage. Für den Fall, daß ich einen durchfahrenden Fernzug erwische oder irgendwo auf einem Abstellgleis lande.
Alle Signale stehen auf Rot. Auf den Gleisen warten acht Waggonketten ohne Loks — wie riesige Schlangen. Beim 50. Wagen ist noch immer kein Ende abzusehen, beim 80. höre ich auf zu zählen. Weil da ein Mann im Schatten döst und auf die Abfahrt der Züge wartet. Und ich jemanden suche, den ich ein Stück begleiten kann. Sparks ist braungebrannt, trägt Bluejeans und ein dunkelgrünes T-Shirt mit aufgedrucktem Adlerkopf. Er dreht sich eine Zigarette. Dabei fallen mir seine gepflegten Hände auf. Wie frisch manikürt. Ungewöhnlich für jemanden, der mit Güterzügen fährt. Und interessant.
Ich will nach Dallas", sagt der 44jährige und lüftet seine Baseballkappe. "Erst runter nach Bakersfield und dann über Phoenix an der mexikanischen Grenze lang oder mitten durchs Land. Hängt davon ab, wo der nächste Zug hingeht. Wird Zeit, daß sich endlich was bewegt. Ich warte hier schon fast acht Stunden lang."
Ob ich ihn ein Stück begleiten könne, frage ich. "Okay", sagt er. "Siehst mir nicht nach einem gefährlichen Psychopathen aus, der es auf mein bescheidenes Leben und ein paar Dollars abgesehen hat. Schätze, ich kann ein wenig Gesellschaft vertragen."
Ein paar Stunden sitzen wir herum und warten. Schwitzen. Spülen den Staub mit Cola runter. Plötzlich, am späten Nachmittag, kommt Bewegung auf die Gleise. Lokcrews werden mit Jeeps zu den Zügen gebracht. Die schwarzen Loks des Eisenbahnunternehmens Southern Pacific rangieren. Und koppeln wenig später an die Waggons an. Es riecht nach Diesel und Öl, Rußpartikel fliegen durch die Luft. Hupen ertönen. "Okay", sagt Sparks. "Dann mal los." Er schultert seinen Rucksack und geht mit zügigen, festen Schritten über die faustgroßen Schottersteine dicht an einer Mauer entlang. So dicht, daß der Bahnhofscop, der oben im Tower sitzt, ihn nicht sehen kann. Ich folge ihm.
Zielstrebig steuert Sparks einen silbergrauen Zug an, der sich langsam in Bewegung setzt. "Das sind fabrikneue Waggons. Auf die muß man einfach aufspringen. Egal, wo der Zug hinfährt", ruft er. Unser Silberpfeil hat Getreide geladen. Er ruckelt vor und zurück. Die Ampel steht noch auf Rot. Sparks sucht einen Waggon, auf dem wir Platz haben. Als er ihn gefunden hat (überdacht, fahrtwindgeschützt), gibt er mir ein Zeichen.
Kurz nachdem ich aufgesprungen bin, setzt sich der Zug in Bewegung. Wir hocken auf einer etwa drei Meter breiten und ein Meter tiefen, balkonähnlichen Plattform unterhalb des geschlossenen Getreidecontainers. Ich klammere mich am Geländer fest. Der Zug fährt Richtung Osten. Sparks glaubt, daß er das Getreide nach Salt Lake City bringt. Und uns auch.
Langsam tuckern wir durch Roseville. Die Passanten auf den Straßen winken, wir winken zurück. Die Loks geben vor jedem Bahnübergang laut Signal. Zweimal lang, dreimal kurz.
Sparks dreht den Schirm seiner Baseballmütze nach hinten. Er wirkt jetzt munterer, sicherer, glücklicher als vorhin auf dem Bahnhof. "Verdammt noch mal", ruft er gegen den Fahrtwind, "das ist meine Welt." Dann stützt er mit einer Hand das Kinn ab, guckt versonnen in die Ferne und lächelt.
Wir schweigen. Es ist so ein merkwürdiges Schweigen, wie wenn man an einem Lagerfeuer sitzt und gebannt hineinstarrt. Die glutrote Sonne hüllt die üppige kalifornische Landschaft in warme Farben. Wiesen, auf denen Rinder und Schafe grasen, Berge, auf denen Wein angebaut ist, und Flüsse, in denen Forellenfischer mit langen Bambusruten knietief im Wasser stehen.
Der etwa eineinhalb Meilen lange Getreidezug wird von vier Loks gezogen. Durch die Reibung zwischen Rad und Schiene kreischen die mächtigen Räder in den Kurven so laut, daß man sein eigenes Wort nicht versteht. Das gehört dazu, genau wie das Kratzen im Hals und der Ruß in den Augen.
Kurz hinter Auburn versinkt die Sonne hinter den Bergen. Wir ziehen uns Pullover und Jacken an und rollen unsere Schlafsäcke und Matten aus. Es wird kalt werden in der Sierra Nevada.
Sparks erzählt, daß FBI-Agenten vor 14 Tagen in Roseville einen Serienkiller festgenommen haben. Einen27 jährigen, der innerhalb von zwei Jahren 23 Männer auf Güterzügen ermordet haben soll. Die meisten seiner Opfer hat er mit dem Messer erstochen, beraubt, zerstückelt und dann aus dem fahrenden Zug geworfen. Immer Männer, die alleine unterwegs waren.
Der 27jährige ist Mitglied einer vierköpfigen Gang, auf deren Konto in den vergangenen zwei Jahren insgesamt 44 Güterzugmorde gehen sollen. Die drei anderen werden noch gesucht.
"Kannst aber cool bleiben", sagt Sparks. "Solange du mit mir unterwegs bist, passiert dir nichts." Dann zeigt er mir sein Messer. Ein normales mit geschnitztem Griff und bescheidener Klinge. Das Ding macht mich nervös. Als ich mich hinlege, nehme ich mein Taschenmesser mit in den Schlafsack und achte darauf, daß ich Sparks im Blickfeld habe. Ihn im Auge zu behalten, kann nicht schaden,denke ich. Ein paar Tage später gesteht mir Sparks, daß auch er die ersten Nächte mit der Hand am Messer schlief. "Für alle Fälle..."
Kurz vor Squaw Valley nahe des Lake Tahoe stoppt der Zug. Kojotengeheul reißt mich aus dem Schlaf. Der Schnee entlang der Gleise liegt mindestens einen Meter hoch. Die Luft ist klar und kalt. Der Vollmond prangt am Himmer, unzählige Sterne funkeln wie ein riesiges Feuerwerk.
Es ist ein komisches Gefühl, mitten im Schnee fast unter freiem Himmel nur in einem Schlafsack zu liegen. Wo ich doch am Tag noch so geschwitzt habe. Aber es ist auch ein gutes, ein aufregendes Gefühl. Ich atme tief durch und krieche tiefer in den Schlafsack hinein.
Als es hell wird, wache ich fröstelnd auf. Wir fahren durch ein scheinbar endloses Tal. Ein paar Meilen entfernt, links und rechts der Schienen, kahle, an den Spitzen schneebedeckte Berge. Vor und hinter uns nichts als Sand und Sträucher. Wir fahren zwar mit hoher Geschwindigkeit, aber es ist, als ob wir stehen würden und auf ein Standbild gucken. Die Landschaft verändert sich einfach nicht. Über Stunden hinweg immer das gleiche Bild.
Sparks erzählt von seiner Kindheit in Indiana. Seine Mutter war deutscher Abstammung und der Vater Cherokee-Indianer. Nach dem College war Sparks im Vietnamkrieg, selbständiger Bauunternehmer in Texas mit fünf Angestellten, hat es neben der Firma zu einem Haus, vier Pferden, einer Harley und zwei Trucks gebracht.
Noch vor seiner ersten Scheidung wanderte er in den Knast, weil er den Geliebten seiner Frau, einen Sheriff, mit dem Baseballschläger lebensgefährlich verletzt hat. "Der hat mich so lange provoziert, bis ich durchgedreht bin", sagt er. Als er nach sechs Jahren aus dem Knast entlassen wurde, hat jemand auf ihn geschossen. Und dabei nur ganz knapp sein Herz verfehlt. Sparks zeigt mir die Narbe in der Brust, die die Kugel hinterlassen hat. Er glaubt, das war ein Racheakt des Sheriffs, der zwischenzeitlich seine Exfrau geheiratet und das Sorgerecht für seine Tochter bekommen hat.
Seit seiner zweiten Scheidung vor einem Jahr — seine zweite Frau hat ihn mit seinem besten Freund betrogen - besitzt er nur noch, was in seinen Rucksack paßt. "Scheiß doch auf das ganze Zeugs. Erst wenn du nichts mehr besitzt, bist du frei. Eigentum fesselt dich manchmal an einen Ort, an dem du gar nicht sein willst. Deshalb habe ich alles dagelassen und bin einfach weg", sagt Sparks. Jetzt ist er seit fast einem Jahr auf den Schienen unterwegs. Eine Karte der United States Railroads braucht er nicht mehr - weil er alle Strecken kennt, überall schon gewesen ist. "Beim Rumsitzen in den Waggons und an den Gleisen habe ich viel Zeit zum Nachdenken", sagt er. "Das tut mir gut." Wenn ihm das Geld ausgeht, jobbt er als Cowboy oder auf Obstplantagen. Nie länger als zwei Wochen, dann verspürt er das "fieberhafte Verlangen nach Ortsveränderung". Sparks ist sein train name. Eigentlich heißt er Thomas J. Plummer.
Auf der Strecke zwischen den beiden Nestern Lovelock und Elko stehen mitten im Nichts manchmal ein paar windschiefe Holzhütten, aus deren Schornsteinen dicker, grauer Rauch in den Himmel steigt. Kleine Rinderherden und magere Pferde trotten über den verdorrten Boden und suchen nach Freßbarem. Verbeulte Autos rosten an den Wegen. Das sind Indianerreservate. Früher gehörte das Gebiet hier den Shoshoni.
Nach 18stündiger Fahrt erreichen wir das Great Salt Lake Desert im Bundesstaat Utah. Zwei Stunden später fahren wir auf einem aufgeschütteten Wall über den großen Salzsee. Reiher kreisen am blauen Himmel, am sandigen Ufer nisten Enten. Endlich wird es wieder wärmer. Die Luft hat so hohen Salzgehalt, daß wir richtig trockene Kehlen bekommen. Selbst Wasser aus der Flasche schmeckt jetzt salzig.
In Ogden, 30 Meilen von Salt Lake City entfernt, springen wir vom Zug. Odgen ist ein kleines, gepflegtes Kaff. Auf dem Marktplatz dröhnt klassische Musik aus Lautsprechern, die an den Straßenlaternen angebracht sind. Klassik, hoffen die Stadtoberen, hält die Kids fern und läßt sie gar nicht erst auf den Gedanken kommen, herumzulungern und Wände zu besprühen. Nur ein besoffener Mexikaner, der rauchend aus der Bar stolpert und ein Lied grölt, stört das Bild der Kleinstadtidylle.
Auf dem außerhalb gelegenen Güterbahnhof warten ruppige, unrasierte Kerle, die ihre Nase am Unterarm abputzen und kein Deo benutzen. Abenteurer, die sich in Bächen und Flüssen waschen und die Erinnerung daran verloren haben, wie es sich in einem Bett schläft. Überlebenskünstler, die keine Flaschen- und Dosenöffner brauchen - Hobos.
Hobos sind Männer, die keinen festen Wohnsitz haben. Aussteiger wie Sparks, deren gesamtes Hab und Gut in den Rucksack paßt. Deren Zuhause die Schienenstränge sind. Die mit einer Handvoll Dollar im Monat auskommen. Weil sie kein Haus oder Auto abstottern und keine Gas-, Strom, Telefonrechnungen, keine Miete und keine Fahrscheine bezahlen müssen. Keine gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkommen, Online zu erreichen oder auf dem neuesten Stand der Mode sein müssen. Männer, die in den Tag hinein und dort leben, wo sie leben wollen.
In Amerika gibt es Hobos, solange es Güterzüge gibt. Schon Jack London hat über sie geschrieben. Sie springen auf die Waggons, fahren durchs Land und machen dort halt, wo es ihnen gefällt. Wo es warm ist. Wo sie ein auf paar gute Wochen, ein Dach über dem Kopf und einen Job hoffen. Oder wo sie auf gar nichts hoffen. Wo sie einfach nur sein wollen.
Sie haben ihre eigene, vierteljährig erscheinende Zeitung: The Hobo Times. In Kalifornien und Idaho gibt es Hobo-Museen. Die Mitgliedschaft in der National Hobo Association kostet 15 Dollar im Jahr. Und alljährlich treffen sich Tausende zum Hobo-Festival.
Weil viele Hobos Vietnam-Veteranen sind, die den Dschungelkriegnicht ohne seelische oder körperliche Blessuren überstanden haben, verteilt die Army dort ganze Lkw-Ladungen von Schlafsäcken, Boots, Taschenlampen, Planen, Zelten und Lebensmittelkonserven. Ein Wochenende lang wird auf dem Festival gesoffen, gesungen und getratscht.
Die meisten Hobos haben außer ihrem Geburtsnamen einen train name, den sie sich selbst ausgesucht haben. Viele kennen sich untereinander. Weil sie sich immer wieder treffen.
Offiziell ist Güterzugtrampen in den USA verboten. Doch viele Amerikaner sympatisieren mit den Hobos. Viele sind selbst schon mal aufgesprungen: Rechtsanwälte, Lehrer, Bankangestellte, Computerfachleute, Selbständige, aber auch Studentinnen oder Designerinnen - Leute, die mal aussteigen wollen aus dem zermürbenden Kampf um Karriere und Knete. Die auf ihrem Trip quer durch die Staaten Abenteuer suchen. Den Thrill des Unkalkulierbaren. Die in ihrem Kopf Platz für neue Ideen schaffen wollen.
Sie lassen ihre Kreditkarten, Handys, Terminkalender und elektronischen Adreßbücher zu Hause, um ungestört unterwegs zu sein. Keine Zeitung, kein Radio, keine Hektik, keine Staus, keine Meetings. Dafür Weite, Ruhe, ungetrübte Naturgewalten und Zeit. Sie wollen anders als andere reisen. Auf die letzte wirklich abenteuerliche Weise die Staaten erobern.
Wer von der Bahnpolizei erwischt wird, muß zwischen 50 und 500 Dollar berappen, zumindest jedoch bekommt man einen Strafzettel aufgebrummt. So will es das Gesetz. In der Realität aber sind viele Cops milder und sprechen nur Verwarnungen aus. Manchmal nicht mal das. Einzig in Texas reist es sich mit dem Güterzug richtig gefährlich: Dort kommt man pauschal und ohne Verhandlung 90 Tage in den Knast.

Drei Männer, die auf der Brücke des Ogdener Güterbahnhofs warten und nach Wyoming wollen, haben den Schirm ihrer Baseballmützen tief ins Gesicht gezogen, lassen filterlose Zigaretten und die Zweiliterflasche Bud light kreisen. Nachdem die Flasche ausgangs der zweiten Runde bereits den letzten Tropfen Flüssigkeit verloren hat, knacken sie eine weitere, verschränken die Arme hinter dem Kopf, strecken die Beine aus und pusten sich Nikotinringe zu.
"Ich habe den Killer gekannt, den das FBI in Roseville hopsgenommen hat. Hab ein paar hundert Meilen mit ihm zusammen im Waggon abgerissen. War eigentlich ein ganz passabler Kerl, ziemlich locker drauf. Daß der ein irrer Killer ist, hätt' ich nie gedacht. Verdammt noch mal, mir läuft es eiskalt den Rücken runter, wenn ich dran denke, daß er auch mich hätte in Stücke hacken und ich jetzt als Geier- oder Kojotenschiß die Erde düngen könnte", sagt Smocking Joe, der sich neben dem obligaten Messer noch einen Revolver zugelegt hat.
Wir springen auf einen langsam rollenden Zug auf und fahren die 30 Meilen bis nach Salt Lake City auf dem Trittbrett mit. Im dortigen Hobocamp ist nur wenig Betrieb. Vier Männer schlafen am Rande der Schienen. Leon krabbelt gerade aus dem Schlafsack und läßt ein Bier zischen. Er hat zwei Uhren am linken Arm. Sie zeigen beide unterschiedlich Zeiten an. Richtig ist keine.
"O Gott, ich muß meine Mutter anrufen. Die hat heute Geburtstag", sagt Leon und kratzt sich im Gesicht, das von einem struppigen Bart umrahmt ist. "Auf dich, Mom." Er leert das Bier, das er in der linken Hand hält, und greift mit der rechten nach der nächsten Büchse. "Reisen, Relaxen und Rülpsen. Das ist mein Leben", sagt er.
"Schon klar, Chef", sagt Sparks.
Drei kalifornische Studenten springen auf den Kohlezug nach Westen. Sie waren in Florida und haben dort das ganze Geld auf den Kopf gehauen. "Ein Flugticket war nicht mehr drin. Was soll's", sagt einer von ihnen. "Die Eisenladys bringen uns auch nach Hause. Da haben wir sogar noch ein bißchen Spaß unterwegs."
Wir warten sechs Stunden, bis ein Zug in die richtige Richtung, nach Südosten, abfährt. Doch das Warten hat sich gelohnt. Es ist ein langer Zug, der von fünf Loks gezogen wird. Langer Zug heißt lange Fahrt. Wir springen auf einen Boxcar. Dem klassischen und beliebtesten Hobocontainer. Dem Mercedes aller Güterzugtramper.
Der Boxcar ist leer und ziemlich sauber. Kein Hobo würde auf die Idee kommen, hier in die Ecke zu pinkeln. Wer pißt schon in sein Wohnzimmer? Damit die Türen nicht schließen, hat Sparks sie mit zwei großen Schienennägeln fixiert. Sparks schmeißt eine Runde Erfrischungstücher und meint, daß Inkpin der passende train name für mich sei. Ich bin einverstanden und mache ein paar Tortillas mir roten Bohnen fertig.
Wir sitzen da, lassen uns durchschütteln und gucken auf die vorüberziehende bergig-schroffe Landschaft Utahs. Direkt an den Schienen schlängelt sich der Jordan River entlang. An manchen Stellen sieht es so aus, als ob er bergauf fließen würde. Wir können die Forellen mit bloßem Auge sehen.
In Grand Junction, Colorado, ist kurz nach Mitternacht Endstation. Sparks sagt, ich solle aufpassen. Es gebe Skorpione hier und Klapperschlangen. Plötzlich blendet uns jemand mit der Taschenlampe. Sparks greift instinktiv zum Messer. Doch es ist nur der Zugführer. Er fragt uns aus dem Fenster seiner Lok heraus, wo wir hin wollten. Er würde gleich in Richtung Osten über die Rocky Mountains nach Pueblo abdampfen. Wir können in der letzten Lok seines Zuges mitfahren.
Das Angebot braucht er uns nicht zweimal zu machen. In der Lok sind Sitze - gut für mein lädiertes Hinterteil. Und ein Klo mit Waschbecken. Außerdem besitzt die Lok Stoßdämpfer und eine Heizung. Das ist viel wert, wenn es über die kalten Berge geht.
Die Strecke, die vor uns liegt, sagt der Zugingenieur, der uns ein Sixpack Trinkwasser nach hinten bringt, gehöre nicht nur zu den schönsten, sondern auch zu den härtesten und damit zu den unfallreichsten in ganz Amerika. Erst vor ein paar Tagen seien die ersten Waggons eines Güterzuges abgestürzt, weil er zu schnell gefahren ist.
"Die Lokcrew ist bei dem Unfall ums Leben gekommen", erzählt er. "Nur ein Tramp hat überlebt. Der hat nicht mal was mitgekriegt, schlief fest auf einem einem der unversehrten Waggons am hinteren Ende des Zuges. Als die Rettungssanitäter ihn weckten, wollte er nur wissen, wann es endlich weitergehe."
Wir passieren Arkansas River, das Ski-Eldorado von Aspen, wo Hollywoodgrößen wie Jack Nicholson, Don Johnson oder Arnold Schwarzenegger Grund und Boden besitzen, und haben kurz hinter dem Slalom- und Abfahrtsmekka Vail freien Blick auf den höchsten Berg der Rockies - den Mount Elbert (4399 Meter).
Wie verabredet stoppt der Zug kurz vor Pueblo, um uns abspringen zu lassen. Wir nehmen uns Zimmer im "Best Western Town Motel". Meine Sehnsucht nach einer Badewanne ist einfach zu stark. Aber ich habe kein Bedürfnis, in die Röhre zu schauen, Telefonate zu führen oder Zeitungen zu lesen.

Den Abend verbringen wir in einer Texasbar mit ausgestopftem Grizzly im Eingang und Klapperschlangen an den Wänden. Ein paar Mexikaner spielen Billard. Der Verlierer zahlt eine Runde Tequila. Betrunkene Indianer starren mit trüben Augen und herunterhängendem Kinn in ihr Bier. Rock und Blues hämmern aus der Jukebox. Zu Johnny Winter, Jimi Hendrix, Crying Wulf und John Lee Hooker trinken wir Bud und Wodka, bis wir anfangen zu lallen.

Als wir weiter Richtung Texas wollen, treffen wir den 62jährigen Roy und seinen 28jährigen Stiefsohn Michael. Sie trampen seit fünf Jahren gemeinsam durch die Staaten. "Es ist schön, sich keine Sorgen mehr wegen Miete und dem ganzen Krempel machen zu müssen", sagt Roy. "Wir haben wenig", sagt Michael, "deshalb sind wir glücklich."
Willy, Anlageberater aus Chicago, hat viel und ist ziemlich betrübt, daß seine Güterzugferien sich dem Ende zuneigen. Der 38jährige ist schon wieder auf dem Weg nach Hause. Zu seiner Familie, dem Penthouse, dem gutdotierten Job, den Freunden.
"Ich war drei Wochen unterwegs und hab jetzt wieder Sauerstoff in der Lunge, Blut in den Adern und Mark in den Knochen. Trotzdem, die ersten paar Tage Chicago werden für mich sicher ganz schön hart. Ich werd' die guten alten Schienenstränge vermissen", sagt er.
Am nächsten Morgen erwischen wir den Zug nach Amarillo und fahren durch die endlose Weite der Prärie: ausgetrocknete Flußtäler, riesige Kakteen, knorrige Sträucher, steile, rötliche Felsen. Wir verlassen Colorado und kreuzen New Mexico und rattern mit 40 Meilen pro Stunde auf unser Ziel zu.
Als wir ankommen, ist es dunkel. Starker Wind wirbelt Staub, Pappbecher und alte Zeitungen durch die Luft. Eine vergilbte Amarillo Daily News, die vor meinen Füßen landet, titelt: Rauchen in den Stadtparks verboten. Sparks zündet sich eine Fluppe an und lacht: "Oh, ich liebe Texas."

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